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eine Arbeit
von
Steve Krause
Die Musik spielte immer eine besondere Rolle in Hermann Hesses Leben. Ein Urgroßvater von ihm war Musiker, als Kind lernte er selbst Geige spielen und als Erwachsener war er mit vielen Musikern und Komponisten befreundet. Er schrieb Musikkritiken und Kommentare, und viele seiner Gedichte wurden vertont. Die Musik spielte auch eine bedeutende Rolle in vielen seiner Geschichten, wie zum Beispiel in der Erzählung "Eine Sonate" und in seinem berühmten Roman Der Steppenwolf.
Die 1906 geschriebene Erzählung "Eine Sonate" handelt von Frau Hedwig Dillenius, ihrem Bruder Ludwig und ihrem Mann. Eines Abends kommt Ludwig vorbei, um eine neue Sonate von einem Komponist namens Reger vorzuspielen. Die Musik transportiert Hedwig in eine märchenhaften Traumwelt hinein, aber ihr bürgerlicher Mann ist von der Musik weniger betroffen, und erklärt, die Musik sei zu originell - er habe lieber Mozart oder vielleicht Wagner gehört.
Im Gegensatz dazu ist Hesses 1927 erschienener Roman Der Steppenwolf die Geschichte eines einsamen Menschen namens Harry Haller, der gerade versucht, seinen Platz in der von ihm verachteten Welt zu finden. Haller glaubt, sowohl Mensch als auch Wolf zu sein, und die Geschichte handelt von seinem Versuch, diese beiden Teile seines Geistes zu vereinbaren und zufrieden zu werden.
Die zwei Texte sind doch ungleich gestaltet: der einer ist eine sechs seitige Erzählung, während der andere als einer der bedeutensten Romane dieses Jahrhunderts gilt. Sie kommen zwar aus zwei verschiedenen Epochen von Hesses Leben, aber sie handeln von einigen der selben Themen. Sie sind beispielsweise beide Kritiken der modernen, bürgerlichen Gesellschaft, und in beiden spielt die Musik eine wichtige Rolle in den traurigen Leben der Figuren Hedwig und Harry.
Weil beide Geschichte solche Ähnlichkeiten besitzen, ist es deshalb vernünftig, die Texte genauer anzuschauen und zu untersuchen, in welcher Weise die Musik beschrieben wird, und wie Hesses Bild der Musik in diesen Texten mit den Gedanken seiner Zeitgenossen zu vergleichen ist. Das erste Teil dieser Arbeit beschäftigt sich mit dem Thema, wie die Musik der bürgerlichen Welt gegenüber steht. Im zweiten Teil wird die Beschreibung der Musik als Motiv und ihr Zusammenhang mit der menschlichen Innenwelt untersucht. Die Musik als eine Lösung für menschlichen Schmerz und Entfremdung wird im dritten Teil behandelt. Diese Untersuchung wird uns zeigen, daß in Hesses "Eine Sonate" und Der Steppenwolf die Musik eine sinnliche Kunst ist, die im Gegensatz zu der bürgerlichen Gesellschaft steht, und die durch ihre Verbindung zu einer magischen und phantastischen Innenwelt einen Weg zur Lösung existentiellen Schmerz und Entfremdung anbietet.
Unter den Naturalisten wurde die Lage der modernen Menschen in der bürgerlichen Welt zu einem Hauptgedanken, und die psychologischen und existentiellen Fragen, die dazu gehören, wurden von späteren Dichter wie Schnitzler, Kafka und Thomas Mann aufgenommen. Obwohl Hesse nicht als Naturalist gilt, sieht man eine Ähnlichkeit zwischen der Handlung von "Eine Sonate" und Henrik Ibsens "Nora oder ein Puppenhaus". Beide Geschichten handeln um Frauen, die mit ihren Ehen und bürgerlichen Existenzen unzufrieden sind, und die versuchen, einen Ausweg zu finden. Ibsens Nora erkennt, daß sie ihr Leben ändern muß, und verläßt ihrem Mann. Hedwig Dillenius versucht ihren unglücklichen Zustand durch Musik loszuwerden, aber im Gegensatz zu Nora kann sie sich von ihrem bürgerlichen Leben nicht trennen lassen, und sie bleibt bei ihrem Mann. Auch in Der Steppenwolf geht es um die Unfähigkeit der Hauptfigur weder in der bürgerlichen Welt zu leben, noch diese Gesellschaft zu verlassen. Das Bürgerliche wird oft von Hesse und seinen Zeitgenossen als etwas Banales und Individuumfeindliches gesehen. Sie stellen immer wieder eine Welt dar, in der die Kunst und der Künstler keinen Platz haben. In den Werken Kafkas und besonderen Werken von Hesse ist diese Welt auch für die Entfremdung der Menschen verantwortlich, da sie gegen das Geistliche und das Sinnliche steht, und nur einen vertrockneten Verstand besitzt. Kurz gesagt: die bürgerliche Außenwelt ist banal, und sie steht im Gegensatz zu irgendeinem ästhetischen Ideal, beziehungsweise der Musik.
Daß die Musik der bürgerlichen Gesellschaft, die in "Eine Sonate" und Der Steppenwolf dargestellt wird, unverständlich ist, wird durch die Äußerungen von Herrn Dillenius deutlich gemacht. Dillenius stellt einen typischen Spießbürger dar: er ist "brav, höflich, auch zärtlich", aber er ist "zufrieden mit [...] seinem Leben, mit Arbeit, Essen, [und] ein wenig Vergnügen". (Die Verlobung, 46) Seine Vorstellung von Musik ist sehr stark begrenzt und bezieht sich nur auf Berühmtes. Wann Hedwig ihm sagt, daß die neue Musik, die sie hören werden, von einem Komponist names Reger kommt, antwortet er: "Ja, wir werden ja hören. Ein neues Mozart wird's auch nicht sein." (Die Verlobung, 47) Aber daß er weder etwas von Reger noch von Mozart weiß, wird nach dem Spielen der Musik klar, als er seinem Schwager erklärt, warum ihm die Musik nicht gefällt: "'Siehst du, das ist Geschmackssache. Ich bin ja nicht absolut gegen alles Neue, aber das ist mir doch zu 'originell'. Wagner laß ich mir noch gefallen --'" (Die Verlobung, 49) Die Sonaten Regers sind eher in einer neoklassischen als in einem romantischen oder modernen Stil komponiert, und sind deswegen leichter mit den Werken Mozarts als mit den von Wagner zu vergleichen, daß aber der Dillenius diese Tatsache nicht erkennt, weist nur auf seine mangelden Kenntnis von Musik hin.
Um seine Ignoranz zu verbergen, bleiben dem Bürger zwei Auswege möglich. Der eine ist, Musik so wenig wie möglich zu achten. Musik bleibt eine kulturelle Pflicht: es ist ein Teil des gesellschaftlichen Seins, Musik anzuhören, aber darüber nachdenken muß man nicht:
Und wenn [Hedwig] ein gutes Konzert gehört hatte, war sie noch lang in einer fremden Geisterwelt, während ihr Mann längst in Pantoffeln umherging, eine Zigarette rauchte, eine wenig über die Musik redete und ins Bett begehrte. (Die Verlobung, 46)
Der andere Weg ist, die Kunst oder den Künstler zu verachten und anzugreifen. Hedwig fragt Dillenius, ob er auf die neue Musik neugierig sei, und er antwortet:
"Aber schließlich muß [Ludwig] von der Musik mehr verstehen als ich. Wenn man den halben Tag Klavier spielt!" (Die Verlobung, 47)
Der Künstler wird von der Gesellschaft verspottet und als nutzlos dargestellt. Der Musiker ist kein integraler Teil der Gesellschaft, sondern nur eine Belastung oder ein Parasit, der seine Zeit an Spielen verschwendet. Als Dillenius sagt, daß die Sonate ihm nicht gefällt, will Ludwig eine Antwort dazu geben, aber er wird von seiner Schwester zurückgehalten. Die Feindlichkeit der bürgerlichen Welt dem Künstler und der Kunst gegenüber wird dadurch gezeigt, daß obwohl Hedwig ihrem Bruder mit den Worten :" 'Laß nur, ja? Es ist ja wirklich Geschmackssache' " (Die Verlobung, 49) zu beruhigen versucht, und Ludwig jetzt keine Möglichkeit zu antworten mehr hat, Dillenius trotzdem agressiv fortfährt: " 'Nicht wahr?' rief [Dillenius] erfreut. 'Was sollen wir streiten? Schwager, eine Zigarre?" (Die Verlobung, 50)
Musik zeigt ihre Ferne von der bürgerlichen Welt auch, indem sie etwas Reizendes und Unordentliches darstellt. Im Gegensatz dazu ist das Bürgerliche ordentlich, banal, mittelmäßig und alltäglich. Der bürgerliche Dillenius reagiert auf die Musik gar nicht enthusiastisch. Sobald die Musik aufhört: "stand Dillenius auf, ging ins Speisezimmer zurück und brachte dem Schwager ein Glas Wein." (Die Verlobung, 49) Die Musik ist ihm so reizend wie das Essen, seine Arbeit oder das Schlafen. Für Harry Haller aber bietet die Musik eine anderes Erlebnis an. Als die Musik im Hotel Balances wieder anfängt, geht Harry mit einem Mädchen tanzen:
Sie tanzte wunderbar, und mich nahm es mit, ich vergaß für Augenblicke alle meine Tanzpflichten und Regeln, schwamm einfach mit, fühlte die straffen Hüften, die raschen geschmeidigen Knie meiner Tänzerin [...] (Der Steppenwolf, 158-9)
Die Musik regt Harry auf und er läßt sich von der Musik führen. Dieses Aufgeben der Selbstbeherrschung ist etwas Unbürgerliches, denn der Spießbürger muß immer seine Selbstdisziplin beweisen.
Die bürgerliche Welt zerstört oder pervertiert das, was sie nicht verstehen oder beherrschen kann. Viele Arten von Kunst werden in die bürgerliche Gesellschaft aufgenommen, und sie verlieren ihre ästhetische Wirkung. Sie behalten zwar ihre Form, aber das Inhalt, das den Geist so bewegt,wird unterdrückt. Diese Verwandlung des Ästhetischen in das Banale wird am Anfang von "Eine Sonate" deutlich gemacht: "[Hedwig] betrachtete drei, vier Blätter aus deiner Dürermappe, spielte ein wenig mit einer Kopenhagenen Porzellanfigur." (Die Verlobung, 45) Die Gegenstände sind nur Schatten ihrer möglichen Bedeutung. Zum Beispiel sind die Porzellanfiguren nur Stücke aus Massenproduktion, die die Schönheit einer wirklichen Statue nicht überreichen können. Auch in Der Steppenwolf wird die Wert der Kunst durch die moderne Gesellschaft herabgesetzt:
Es war ein kleines gerahmtes Bild, das auf dem runden Tisch seinen Standort hatte [...] Es war eine Radierung und stellte den Dichter Goethe dar, einen characktervollen, genial frisierten Greis mit schön modellierten Gesicht [...] Vermutlich war dieses Bild nicht dümmer als alle Bilder dieser Art, alle diese von fleißigen Kunsthandwerkern hergestelleten holden Heilende, Apostel, Heroen, Geisteshelden und Staatsmänner [...] (Der Steppenwolf, 104)
Das Bild ist wie der Spießbürgertum: klein, nett, hübsch und bedeutungslos. Es ist ein Bild, das zufriedene Bürger auf einen Tisch stellen, damit sie zeigen können, daß sie Kultur besitzen, aber Harry Haller bemerkt:
Hier waren schönstilisierte Altmeister und nationale Großen zu Hause, keine Steppenwölfe. (Der Steppenwolf, 104)
Wie es im 'Tractat vom Steppenwolf' steht, sucht das Bürgerliche immer den Mittelgrund, und der Steppenwolf sieht immer die Extreme im Leben: er ist Wolf und Mensch zugleich. Auch die Werke Goethes und besonders sein Faust bestehen aus Extremen. Faust sucht nach der Unendlichkeit und ist mit einem bürgerlichen Leben nicht zufrieden; indem ein Bild von Goethe so beiläufig auf dem Tisch steht, wird Goethe und seine Kunst pervertiert.
Im Gegensatz zu anderen Arten der Kunst aber kann die Musik nicht pervertiert werden. Während die Malerei und die Skulptur durch die Mechanisierung des Kunstprozesses verkommen, hat die Musik eine unsterbliche Seele, die sich von den anderen Arten der Kunst unterscheiden läßt und sich eine besondere Stelle der bürgerlichen Welt gegenüber verdient. Diese sonderbare Eigenschaft der Musik wird am Ende Der Steppenwolf von Pablo erklärt, nachdem Harry Haller sich gegen die scheußliche Klänge äußert, die aus dem Radioapparat kommen:
"Hören Sie einmal, Sie Männlein, ohne Pathos und ohne Spott, hinter dem in der Tat hoffnungslos idiotischen Schleier dieses lächerlichen Apparates die ferne Gestalt dieses Göttermusik verüberwandeln! [...] Achten Sie darauf, wie diese irrsinnige Schalröhre scheinbar das Dümmste, Unnützste und Verbotenste von der Welt tut und eine irgendwo gespielte Musik wahlos, dumm und roh, dazu jämmerlich entstellt, und einen fremden, nicht zu ihr gehörigen Raum hinein schmeißt - und wie sie dennoch den Urgeist dieser Musik nicht zerstören kann, sondern ihn nur ihre ratlose Technik und geistlose Betriebemacherei erweisen muß!" (Der Steppenwolf, 271-2)
Die Musik kann weder von der bürgerlichen Welt verstanden noch zerstört werden, und die Welt der Musik, wie sie in "Eine Sonate" und Der Steppenwolf dargestellt wird, gehört nicht der bürgerlichen Außenwelt, sondern einer magischen und unsterblichen Innenwelt. Das banale Spießbürgertum ist unfähig, ästhetische Ideale zu erkennen und zu geniessen. Im Gegensatz zu der bürgerlichen Gesellschaft ist die Musik etwas Aufregendes und Sinnliches, und gerade weil diese Außenwelt und die Musik sich diametral gegenüberstehen und unvereinbar miteinander sind, muß das Bürgerliche versuchen, die Musik zu pervertieren, wie es dies mit den anderen Kunstformen getan hat, aber die Musik zeigt sich als unzerstörbar und innerlich stark.
Der Motiv Musik, als er in "Eine Sonate" und Der Steppenwolf auftaucht, ist eine wichtige Verbindung zwischen der Außenwelt und der Innenwelt. Die Musik kann den Menschen zu einer Traumwelt transportieren, in der das Paradies dargestellt wird. Diese Welt ist auch zeitlos, und Erinnerungen werden wie neue Erlebnisse, und durch die Musik wird die phantastische Welt des magischen Theaters verwirklicht.
Die Verbindung zwischen der Musik und Träumen spielt eine große Rolle in der Erzählung "Eine Sonate". Hedwig bemerkt, wie die Musik sie aus dem Alltäglichem herausnimmt, und "wenn sie ein gutes Konzert gehört hatte, war sie noch lang in ein fremden Geisterwelt [...]" (Die Verlobung, 46) Als Hedwigs Bruder Ludwig anfängt, die neue Sonate vorzuspielen: "hörte [sie] die ersten Takten aufmerksam an, die Musik berührte sie fremd und sonderbar." (Die Verlobung, 48) Nur zuerst bleibt sie in der Außenwelt, in der sie die Musik noch hört - bald fühlt sie die Musik, und das Hören selbst wird unwichtig. Sie verliert sich in eine Welt der Bilder und Natur-Erlebnisse. Sie hört nicht mehr die Musik selbst an, sondern die Musik ist ihr ein Weg, diese Träume zu erleben:
Ludwig spielte, und sie sah eine weite dunkle Wasserfläche und großen Takten wagen. [...] In dem Brausen der Wellen, des Windes und der großen Vogelflügel klang etwas Geheimes mit, da sang bald mit lautem Pathos bald mit feiner Kinderstimme ein Lied, eine innige, liebe Melodie. (Die Verlobung, 48)
Im Gegensatz zu der bürgerlichen Welt, in der Herr Dillenius "brav, höflich [und] auch zärtlich" ist, ist diese innere Welt eine Welt des Sinnlichen. Auch in Der Steppenwolf bietet die Musik Harry Haller einen Gang zur Traumwelt an. Als Haller im "Schwarzen Adler" sitzt, nachdem er mit Hermine zum ersten Mal gesprochen hat, findet er sich von Tanzmusik umringt, und er will schlafen:
Und da schlief ich schon, dem mütterlichen Befehl getreu, schlief gierig und dankbar und träumte, träumte klarer und hübscher, als ich seit langem greträumt hatte. (Der Steppenwolf, 122)
Diese Beispiele zeigen auch, wie das Träumen und die Musik auch mit Erinnerungen verbunden sind. Im Vergleich mit der bürgerlichen Welt ist die Traumwelt zeitlos und grenzenlos, und alles, was man sich vorstellen kann, kann passieren. Im magischen Theater, zum Beispiel, begegnet Haller allen seinen Geliebten wieder, geht mit einem alten Freund jagen, und sieht viele Bilder von sich selbst: "einige älter, einige uralt, andere ganz jung, Jünglinge, Knaben, Schulknaben, Lausbuben, Kinder." (Der Steppenwolf, 229)
Für Hedwig sind es Erinnerungen an das Paradies: "statt des Paradieses erstand des Menschen Traum vom Paradiese". (Die Verlobung, 49) Ihr Bild vom Paradies ist kein mit der bürgerlichen Welt verbundenen Paradies, sondern eine Welt von Elfen, Tanzen und Musik. Es ist ein romantisches oder neuromantisches Bild des Urzustands des Menschen. Die Erinnerungen, die Hedwig hat, sind nicht nur ihre, sondern die der ganzen Menschheit. Diese Verbindung zeigt, daß Musik nicht nur ein Teil der menschlichen Innenwelt ist, sondern auch ein Teil der Menschheit als Ganzes, ein Thema, das später in Hesses von der Psychologie beeinflußten Werken häufiger auftaucht - das Idee einer "kollektiven Unbewußtsein".
Die Musik dient nicht nur darum, den Mensch allein glücklicher zu machen, sondern auch dazu, die Menschen als Gruppe zusammenzubinden, wie man in Der Steppenwolf sieht. Dort steht die Musik nicht allein, sondern auch oft in Verbindung mit Tanzen. Für Harry Haller ist das Tanzen etwas Reizendes. Als er mit Hermine bevor dem magischen Theater tanzt, merkt er zum ersten Mal:
Ein Erlebnis, das mir in fünzig Jahren unbekannt geblieben war [...] wurde mir in dieser Ballnacht zuteil: das Erlebnis des Festes, der Rausch der Festgemeinschaft, das Geheimnis vom Untergang der Person in der Menge, von der Unio mystica der Freude. (Der Steppenwolf, 216)
Die Musik und das magische Theater sei auch ein persönliche Rausch, meint Timothy Leary, der ehemalige Harvard Professor und Drogen Guru, der glaubte, daß das magische Theater ein Drogen-Erlebnis beschreibe:
"Es scheint klar, daß Hesse ein psychedelisches Erlebnis beschreibt, einen durch Drogen herbeigeführten Verlust des Selbst, eine Reise in die innere Welt." (Voigt, 112)
Obwohl die Figuren wie Pablo, Hermine und sogar Haller ihr Bewußtsein durch Alkohol beeinflussen lassen, gibt es keinen Beweis in Der Steppenwolf, der zeigt, daß Hesse sich selbst ein Drogen-Erlebnis vorgestellt hat, aber zugleich hat Leary recht, wenn er die Folgen des magischen Theaters beschreibt. Die Musik und das magische Theater beschreiben die Phantastik, genau wie es in Bulgakavs Roman Der Meister und Margarita auch beschrieben wird. Die Phantastik ist nicht die Wirklichkeit - sie ist irgendwie mehr als wirklich, und da die phantastische Welt mit der wirklichen Außenwelt nicht vereinbar ist, muß es ein Mittel geben, um eine Verbindung zwischen der Außenwelt des Lebens und der phantastischen Innenwelt herzustellen.
Was diese Wirklichkeit sei, die die Musik in Verbindung bringt, geht sowohl auf die deutschen Klassik als auch auf Nietzsche zurück. Die alltägliche Welt, in der beide, Hedwig Dillenius und Harry Haller, sich befinden, ist die apollinische Scheinwelt, und die Innenwelt der Musik und Phantastik läßt sich leicht mit dem Dionysischen vergleichen. Die Porzellanfiguren in "Eine Sonate", und die formhafte, hübsche Goethe-Bild in Der Steppenwolf geben Hinweis auf die Verbindung zwischen der bürgerlichen Welt und dem Apollinischen. Apollo war sowohl der griechische Sonnengott als auch der Gott der Skulptur und Form. Im Vergleich dazu ist die Musik immer mit dem Dionysischen verbunden - mit dem griechischen Gott der Musik und Wein. Unter Schiller und Nietzsche wurde das Dionysische mit dem Rausch, der Auflösung des Ichs, und der tiefen Wirklichkeit verbunden, und es ist diese weitere Wirklichkeit, die durch die Musik mit der Außenwelt verbunden wird.
Wir sehen, statt eines mit der Außenwelt verbundenen Themas, ist Musik ein Gang in das Überwirkliche, das Dionysische und die magische Innenwelt der Phantastik. Durch Musik wirken die Träume als wirklich, und diese Träume sind, wie in "Eine Sonate", oft Bilder des Paradieses. Aber Der Steppenwolf zeigt auch eine wilde und reizende Seite der Musik, eine Seite die noch weniger mit der Außenwelt verbunden ist.
Wie Musik im Gegensatz zu dem Bürgerlichen steht, und wie sie statt dessen mit dem Innerlichen verwandt ist, wird in beiden Texten klar ausgedrückt. Aber noch nicht zu vergessen, ist auch, daß "Eine Sonate" und Der Steppenwolf nicht nur verschiedene Arten von Texten sind, sondern auch daß sie aus zwei verschiedenen Epochen in Hesses Leben entstanden sind. "Eine Sonate" ist ein Frühwerk, das von den Themen und dem Stil eigentlich mehr mit anderen Frühwerke Hesses zu tun hat als mit seinen späteren Werken. Der Steppenwolf ist ein Roman, der aus den Erfahrungen des ersten Weltkrieges motiviert ist, und die Themen, die dort behandelt werden, sind eng mit Hesses Leben und der Gesellschaft dieser späteren Zeit verbunden. Trotzdem aber zeigen beide Texte diese Verachtung der bürgerlichen Welt und diese Beziehung zwischen der Musik und einer magischen Innenwelt. Wozu diese Verbindung zur Innenwelt dient, ist eine andere Frage. Die traumhafte und reizende Natur der Musik bietet eine Erklärung an: Musik dient, menschlichen Schmerz und existentielle Entfremdung zu erleichtern.
Hedwig ist zum Beispiel eine Figur, die weder mit ihrem Leben noch mit ihrem Mann glücklich ist. Ihr Leben hat sie enttäuscht, und ihr Mann "war nicht mehr das, was er ihr während der Brautzeit gewesen war." (Die Verlobung, 45) Es gibt keine Liebe mehr in der Ehe: "er könnte mit ihr gehen bald als Freund, bald als Führer" (Die Verlobung, 45-6), und das Alltägliche ist langweilig und bedeutungslos geworden. Sie hat aber "einen Kobold in sich" (Die Verlobung, 46), und sie will mehr vom Leben: "Sie war damit nicht zufrieden, [...] eine Blume sollte eine Elfe, ein schöner Geist in schöner Verwandlung sein." (Die Verlobung, 46) Aber zur selben Zeit fühlt sie sich unfähig, dieses Leben zu verlassen: "Immer wieder kam sie zu dem Entschluß, sich nicht zu ärgern,geduldig und gut zu sein". (Die Verlobung, 46) Die Musik und das Träumen sind ein Weg, diesen Schmerz zu vergessen, wenn auch nur kurzfristig. In ihren Träumen kann sie sich vergessen, und sich in der Natur auflösen: "Und das Gräßliche ward vom Lieblichen mit wachsendem Zauber überwunden". (Die Verlobung, 49) Aber Musik kann für sie nicht ewig dauern, und sobald die Musik zu Ende ist, wird ihr Mann und das Bürgerliche wieder der Mittelpunkt ihres Lebens. Ihr Bruder Ludwig bemerkt: "daß sie von der Musik ergriffen war" (Die Verlobung, 50) und sie sagt ihm: " 'Du mußt mir das bald wieder spielen, für mich allein.' " (Die Verlobung, 50) Die Musik macht sie glücklich,wenn auch nur momentan, und sie will immer wieder zur magischen Welt der Musik zurückkehren.
In Der Steppenwolf ist es nicht gerade das Träumen, was so wichtig ist, sondern der Rausch und die Trennung von dem Bürgerlichen und dem Selbst. Haller ist auch ein unglücklicher Mensch, dessen Konflikt darin besteht, daß sein Wesen einen menschlichen und einen tierischen Teil enthält, und daß diese Teile gegeneinander kämpfen. Für ihn bietet die Musik den Rausch an, in der er sein Ich auflösen kann: "'Nun hast du endlich den Steppenwolf umgebracht. [...] Gleich wirst du die dumme Wirklichkeit verlassen können.'" (Der Steppenwolf, 228) Im magischen Theater und auch wenn er mit Hermine tanzt, kann er die Fragmente seiner Persönlichkeit aufgeben, und sich einfach "im Meer der Musik" schwimmen lassen:
Aber heute [...] strahlte ich selbst, der Steppenwolf Harry, dies Lächeln, schwamm ich selbst in diesem tiefen, kindhften, märchenhaften Glück, atmete ich selbst diesen süßen Traum und Rausch aus Gemeinschaft, Musik, Rhythmus, Wein und Geschlechtslust [...] (Der Steppenwolf, 216-7)
Für ihn ist das Dionysische am wichtigsten, und die Auflösung des Selbst führt zum momentanen Paradies und Glücklichsein.
Hesses Vorstellung der Auflösung und der Rausch ist dem sehr ähnlich, was man in Nietzsches Schriften findet, und seine Vorstellungen der Kunst und Tragödie sind auf klassischen und modernen (aus dem 19. Jahrhundert) Gedanken gegründet. In den griechischen Tragödien erreicht der Zuschauer momentane Paradieszustände durch Katharsis. Jahrhunderte später wurde die Oper entwickelt, als ein Wiedergeburt der griechischen Tragödien, und auf diese Weise findet man den Zusammenhang zwischen Musik, Tragödie und Auflösung. In "Eine Sonate" ist Tragödie und Katharsis der Schwerpunkt: durch die Sonate erlebt Hedwig eine Erleichterung ihrer Probleme, aber die Tragödie ist nur eine kurzfristige Lösung. Man erlebt Paradies, aber wie Hedwig bemerkt:
statt des Paradieses erstand des Menschen Traum vom Paradiese, nicht weniger glänzend und schön, aber von tiefen Lauten unstillbaren Heimwehs begleitet.(Die Verlobung, 49)
Die Musik und Traumwelt, die Hedwig erlebt, sind nicht vollkommen, und sie kann dort nicht bleiben. Auch zu Harry Haller wird gesagt:
"Wir sind [...] in meinem magischen Theater, und falls du [...] dich mit Alexander dem Großen unterhalten willst, so steht das alles nächstesmal zu deiner Verfügun. [...] Du hast dich arg vergessen, du hast [...] unsre hübsche Bilderwelt mit Wirklichkeitsflecken besudelt. (Der Steppenwolf, 277-8)
Die magische Theater ist nur das: ein Theater, und obwohl Haller alles dort erleben kann, was er will, darf er das Theater nicht mit der Wirklichkeit verwechseln. In diesem Fall scheint es so zu sein, daß Musik nur eine kurzfristige Antwort anbietet, aber es gibt einen Punkt, wo "Eine Sonate" und Der Steppenwolf sich unterscheiden: das Lachen.
In Der Steppenwolf spielt das Lachen eine besondere Rolle. Pablo erklärt Hallers Traurigkeit: " 'Armer, armer Mensch. Sieh seine Augen an! Kann nicht lachen.' " (Der Steppenwolf, 161) Er nimmt alles zu ernst: sein Leben, seine Unzufriedenheit, seine menschlichen und tierischen Teile und das Goethe Bild: " 'Wenn er klug wäre, so würde er über den Maler und den Professor einfach lachen.' " (Der Steppenwolf, 119) In Der Steppenwolf ist das Lachen eine langfristige Lösung. Man soll das Leben, und was darin passiert, nicht zu ernst nehmen, und die Tragödie wird mit der Komödie ersetzt.
Mozart und die Oper ist die Verbindung zwischen Musik und Komödie. Anstatt Tragödien zu schreiben, soll man Komödien komponieren, wie zum Beispiel das magische Theater. Im Gegensatz zu den Romantikern ist Mozart noch humorvoll: die Opern Wagners sind zum Beispiel ernste Dramen und Tragödien, und die Antwort liegt immer darin, daß der Held sterben muß. In dem magischen Theater wiederrum hat das Sterben eine andere Rolle: Haller und seinem Freund Hermann macht das Töten Spaß, aber Pablo-Mozart findet die Ermordung Hermines keine lustige Sache, sondern etwas, das im magischen Theater nicht paßt. Hallers Jagd war etwas leichtsinniges und absurdes, und es paßte im magischen Theater, aber Hermine mit einem Messer zu töten war etwas aus einer ensthaften Tragödie.
Gerade in diesem Punkt unterscheidet sich Hesses Vostellung der Musik in "Eine Sonate" und in Der Steppenwolf. In "Eine Sonate" haben wir dieselbe Vorstellung von Musik, die bei Nitzsche und anderen Denkern auftaucht. Es geschieht durch die Tragödie, daß man einen kurzen Blick in das Wirkliche findet, und in diesem Moment wird das "Ich" aufgelöst. Nachher aber kommt die alltägliche Wirklichkeit zurück, und die Tragödie erweist sich nur als eine kurzfristige Lösung. Der Steppenwolf wurde nach dem ersten Weltkrieg geschrieben, in einer Zeit, in der die Verbindungen zu der Gesellschaft und der Vergangenheit niedergerissen wurden. Das Roman wurde angeklagt, weil es die bürgerliche Gesellschaft und die moralische Grundlagen dieser Gesellschaft angreift, aber zur selben Zeit muß man die positive Richtung des Romans anerkennen. Im Gegensatz zu "Eine Sonate", in der Hedwig ihren Bruder anlügen muß, und die Tragödie ihren Zyklus wieder anfängt, wird in Der Steppenwolf eine neue Möglichkeit gefeiert: die Komödie.
In beiden Geschichten spielt die Musik eine große Rolle, und auch in beiden gilt Musik als etwas Positives, weil sie gegen den Schmerz und die Entfremdung Hilfe leistet. Musik ist eine offene Tür zu einer innerlichen Welt des Träumen und der Phantastik, und in diesem Punkt unterscheidet sich die Musik vom banalen Spießbürgertum und seiner Gesellschaft. Aber wir haben auch gesehen, daß Hesses Vorstellung der Musik sich in Laufe der Zeit ändert und entwickelt. Sie fängt als eine Spiegelung von Ideen an, die von Nietzsche, Kafka und Thomas Mann unterstützt wurden. In Thomas Manns Doktor Faustus zum Beispiel sollte die neue Musik sogar die Hoffnung von Beethovens 9. Symphonie zerstören und sie mit einem größeren Gefühle von Tragödie ersetzen. In dem frühwerken Hesses sehen wir eine ähnliche Geschichte, aber Hesse entwickelt sich als Mensch, Denker und Künstler, und in Der Steppenwolf nimmt er einen anderen Weg. Der Mensch kann doch eine langfristige Lösung finden, und er findet sie gerade im Humor und in der Komödie.
Hesse, Hermann: Der Steppenwolf. Berlin: Suhrkamp 1974.
Hesse, Hermann: Die Verlobung. Berlin: Suhrkamp 1977.
Mileck, Josef: Hermann Hesse - Dichter, Sucher, Bekenner. C. Bentelsmann Verlag 1979.
Marrer-Tisig, Carlee: The Reception of Hermann Hesse by the Youth in the United States - A Thematic Analysis. Frankfurt/M: Lank 1982.
Voigt, Friedrich: Erläuterungen und Dokumente - Hermann Hesse, Der Steppenwolf. Stuttgart: Reklam 1992.